Von der Götterdämmerung…
Bei Menschen und Göttern herrschte tiefe Trauer, seit der Todespfeil Baldur ins Herz getroffen hatte. Nur die finsteren Riesen, die Unholde und die mißgestalten Zwerge frohlockten, denn mit dem Erlöschen des Sonnenglanzes wuchs ihre Macht der Finsternis.
Böse Zeichen kündeten dem Walvater das Ende der goldenen Zeit, die Blätter der Weltesche Yggdrasil wurden welk, und die Asen begannen zu altern. Denn die schöne Iduna, die Göttin der Jugend, tränkte Yggdrasil nicht mehr mit lebenspendendem Met.
Die Göttin Iduna war vermählt mit Odins Sohn Bragi, dem Skalden, der die Gabe der Weisheit und der Dichtkunst besaß. Wenn er in Asgard im Kreise der Götter die Harfe erklingen ließ, dann hingen alle an den Lippen des edlen Sängers und priesen die hohe, bezwingende Macht seines göttlichen Gesanges. Und wie Bragi, den liebenswürdigen Odinssohn, verehrten die Asen seine Gemahlin Iduna, deren Name „Immergrün“ bedeutet und die im wundertätigen Met den Zauberschatz ewiger Jugend bewahrte.
Auf Iduna und ihre Hilfe setzte Odin seine Hoffnung. Er sandte nach ihr, doch mit Schrecken erfuhr er, daß die schöne Göttin verschwunden sei. Vergebens ließ Odin seine Raben ausfliegen, um nach der Entschwundenen zu suchen. Als sie nach langer, langer Zeit zurückkehrten, brachten sie schlimme Kunde: Iduna, die strahlende Göttin, weilte im Totenreich der Hel, von wo es keine Rückkehr gibt, und auch Bragi, ihr Gatte, war ihr dorthin gefolgt, und noch andere unheilvolle Zeichen wußten die Raben zu berichten. Den Geschöpfen auf der Erde entschwinde die Lebenskraft, und in Mimirs heiligem Brunnen beginne die Weisheit zu versiegen.
Voll düsterer Ahnungen hatte Walvater die unheilschwere Botschaft vernommen. Er erkannte, daß das schicksalhafte Verhängnis unaufhaltsam seinen Lauf nehmen werde, nachdem der lichte Baldur und die jugendfrische Iduna zur Hel gefahren waren. In den Nächten hörten die Asen aus den Abgründen der Unterwelt den Fenriswolf heulen, Lokis schrecklicher Sohn zerrte gierig an seinen Ketten, denn er witterte, daß die Stunde seiner Befreiung nahe.
Als mit Baldurs Tod die Sonne ihren Glanz verlor, fiel ein harter langer Winter, der Fimbulwinter, ins Land. Schneegestöber dauerte an und starker Frost, rauhe Winde tobten, und der Winter schien kein Ende mehr zu nehmen.
In dem Wüten der Elemente war es, als liege Dämmerung auch in den Seelen der Menschen. Arges geschah unter Göttern und Menschen. Krieg erfüllte die Welt, Brüder töteten einander aus Habgier, Meineid und Mord, Ehebruch und Verletzung der Gastfreundschaft geschahen, und Gier und Gottlosigkeit herrschten.
Mit bitterer Sorge sahen die Götter im hohen Asgard, wie alle Ordnungen sich auflösten. Vergeblich schleuderte Thor seinen Hammer Mjölnir gegen die Riesen; denn unverletzlich saßen sie hinter den schützenden Eiswänden des Fimbulwinters. Vergebens ritt Odin auf pfeilschnellem Roß zum alten Mimir, dem Weisen; der Weisheitsbrunnen war wie von wildem Sturm bewegt, in ratloser Ohnmacht stand Mimir vor dem Verhängnis.
Da sprengt der Göttervater auf windschnellem Renner zurück nach Walhall, um Götter und Helden zum Kampfe zu rufen; denn das Unheil naht. Laut kräht der hellrote Hahn auf Asgards Dach, und krächzend antwortet der dunkelrote auf Hels Halle. Die Midgardschlange erhebt ihr furchtbares Haupt aus den Fluten des Meeres, und der Grenzwall, der Midgard schützt, bricht. In Todesangst fliehen die Menschen in die Gebirge und bergen sich in Höhlen, denn nun reißt sich der Fenriswolf aus seinen Banden los, daß die Erde im Innersten erbebt.
Stürmisch braust das Meer über seine Ufer, und es kommt ein Schiff gefahren, das von Loki gesteuert wird, und alle Riesen sind bei ihm. Es ist Naglfari, das Nägelfahrzeug: es ist aus Finger- und Zehennägeln der Toten erbaut, welche die Menschen ehrfurchtslos seit langem zu schneiden unterlassen hatten. Der Fenriswolf, dessen gähnender Rachen Himmel und Erde berührt, verschlingt Sonne und Mond, und Finsternis breitet sich über die Welt.
Ragnarök, der Tag der Entscheidung, bricht an. Es birst der Himmel, und in unendlichen Scharen kommen Muspelheims Söhne geritten. Surtur, der Urweltriese, reitet an der Spitze, und rings um ihn her lodert alles von Brandfackeln. Wild entschlossen ziehen sie nun hinaus auf das Feld Wigrid, die Kampfebene, und mit ihrem Heereszuge sammeln sich zum Streite alle Mächte der Finsternis.
Da dröhnt über Asgard hin das Giallarhorn, mit dem Heimdall die Götter zum Kampfe ruft. Es ertönt so laut, daß man auf der ganzen Welt seinen Schall hört. Wenn es zum drittenmal gellt, öffnen sich Walhalls Tore weit, und der glänzende Heerwurm der Götter und Helden reitet hervor. Die Spitze führt Walvater in leuchtender Rüstung, den Goldhelm auf dem Haupte, und Gungnir, den nie fehlenden Speer, in der Faust.
Auf Wigrid, der Walstatt des Weltenringens, beginnt die letzte entsetzliche Schlacht. Wodans Waffe wütet unter den herandrängenden Riesen, und gleich dem herabsausenden Blitz fährt Thors Hammer gegen die Scharen der Unholde; in den Reihen der Asen wütet, Schrecken verbreitend, Lokis Sohn, der grimmige Fenriswolf; unverwundbar zeigt er sich gegen alle Waffen der Götter. Loki und Heimdall töten sich gegenseitig. Mit Mjölnir, dem Hammer, zerschmettert Thor den Kopf der Midgardschlange; doch auch für ihn ist es der letzte Kampf: der Gifthauch des sterbenden Drachen reißt den gewaltigen Asen mit in den Tod.
Tyr stößt auf Garm, den Höllenhund; doch während dieser dem Kriegsgott die Kehle zerreißt, führt der Ase mit seinem Schwerte gegen das Untier den Todesstoß.
Lange kämpft Odin mit dem Fenriswolf, der sich mit entfesselter Kampfesgier auf den Göttervater stürzt, und am Ende verschlingt der Weltenwolf Walvater.
Was hilft es, daß Widar, Odins gewaltiger Sohn, zur Rache herbeieilt und den Wolf zermalmt? Walvater, der Herr von Asgard, ist tot! Für die Asen ist das Ende gekommen.
Surtur dringt in Asgard ein und schleudert den Feuerbrand in die Halle, daß ringsum die glühende Lohe zum Himmel emporschlägt, und auch Midgard geht in der gierigen Flamme auf. Die ganze Welt geht in Flammen auf, und die wohlgefügte Ordnung des Weltalls, einst von den Asen in weiser Sorge geschaffen, ist dahin, der allgemeine Untergang ist da. Der Abgrund der Hel öffnet sich und verschlingt die Toten.
Schwarz wird die Sonne, die Erde versinkt. Vom Himmel fallen die heiteren Sterne.
Glutwirbel umwühlen die allnährende Weltesche. Die heiße Lohe bedeckt den Himmel. -So heißt es in dem Liede aus altersgrauer Zeit, und wenn Yggdrasil, der Weltenbaum, donnernd zusammenstürzt, ist die Welt der Götter und der Menschen in den Wassern versunken.
Doch bedeutet nach der Sage der ungeheure Weltenbrand, der Asgard und Midgard vernichtet hat, nicht das Ende. Das Feuer hat alles geläutert, alle Schuld gesühnt, und das goldene Zeitalter, das einst geherrscht hat, kann wiederkehren. Ein Weltentag mit seinem Guten und Schönen, aber auch mit seiner Schuld und seinen Fehlern ist abgelaufen, und ein neuer Tag ist angebrochen.
Aus dem Meere, dessen Wogen die Welt der Asen verschlungen haben, erhebt sich eine neue Erde mit grünen Fluren, die keines Menschen Hand besät hat. Und wie jener erste Tag beginnt auch dieser mit dem Zustand der Unschuld und des Friedens, mit dem vollkommenen Glück.
Auch die Sonne hat eine Tochter geboren, die nicht minder schön ist als die Mutter und die nun in ihrer Bahn wandelt.
Und unter den Wurzeln der Weltesche in Urds Brunnen haben sich zwei Menschenkinder verborgen gehalten, Lif und Lifthrasir, das Leben und die Lebenskraft. Aus ihnen erwächst ein neues Geschlecht, das die Erde bewohnt.
Ein neues Asgard ersteht. Baldur, der strahlende Lichtgott und sein Bruder Hödur, der Gott der lichtlosen Winterzeit kehren aus Hels Totenreich zurück. Auch Thors Söhne, die ihres Vaters gewaltigen Hammer auf dem Schlachtfelde fanden, nehmen Besitz von den goldenen Götterstühlen. Nicht gilt es mehr“ die Frost- und Eisriesen zu zermalmen; denn das finstere Riesengeschlecht ist nicht zu neuem Leben erstanden nur friedlichem Tun dient der Hammer. Ungetrübter Friede herrscht von nun an in den himmlischen Höhen.