Die Weltenschöpfung

Vom Anbeginn der Tage …

Am Anfang gab es nur zwei Reiche, jenes der Kälte und der Nebel namens Niflheim und jenes der Hitze und des Feuers, welches Muspellheim genannt wird. Zwischen den eisigen Gefilden und dem Meer aus Feuer lag eine große gähnende Schlucht mit Namen Ginnungagap. Es war eine gewaltige Leere inmitten von Licht und Dunkel, wo alles Leben seinen Anfang nehmen sollte.

Hier, wo Eis und Feuer aufeinander trafen, begann der Schnee zu schmelzen. Geformt von der Kälte, aber von der Hitze zum Leben erweckt, entstand ein gewaltiges und wildes Wesen … der Frostriese Ymir. Alles überragte er, denn ein größerer Riese hat nie gelebt.

Dort, wo das Eis schmolz, formten die Tropfen auch ein anderes seltsames Wesen. Es war ein Wesen mit Euter und Hörnern; einer gewaltigen Kuh war Leben eingehaucht und sie hieß Audhumla. Ihre überreichliche Milch floß in mächtigen Strömen aus ihren gewaltigen Zitzen. Auf diese Weise fand Ymir Nahrung. Doch wovon nährte sich die Kuh?

Sie beleckte die in ihrer und des Riesen Umgebung umherliegenden Eisblöcke, welche salzig waren. Dann aber geschah etwas Merkwürdiges: Als sie die Blöcke beleckte, kam aus einem von ihnen plötzlich langes Menschenhaar hervor! Am nächsten Tag lugten bereits ein Kopf mit einem Gesicht hervor! Und am dritten Tag legte sie beim Lecken den ganzen Körper frei… Es war ein Mann. Er war hochgewachsen und schön. Buri war sein Name – und von ihm stammen die Götter ab, die wir Asen nennen.

Der Riese Ymir bekam indes Kinder mit sich selbst. Als er schlief, fing er an zu schwitzen… und da wuchs ihm unter seinem linken Arm Mann und Weib. Ymirs Beine wollten seinen Armen offensichtlich in nichts nachstehen, denn auch seine Füße paarten sich, und ein Sohn mit sechs Köpfen wurde geboren. Das ist der Ursprung der Geschlechter der Hrimthursen, die wir Trolle und Riesen nennen können und welche wir jedoch auch unter dem Namen Jöten kennen.

Die verschiedenen Geschöpfen lebten lange in Frieden zusammen und sie bekamen sogar Kinder miteinander. So wurde Odin als Sohn der Riesen-Tochter Bestla und von Bur, dem Sohn von Buri gebohren.

In jener Zeit herrschte somit das Jötengeschlecht zahlreich, doch sollte sich dies bald ändern. Eines Tages üben Odin und seine Brüder Wili und We den Aufstand gegen den wilden Ymir und sein Geschlecht. Ein schwerer Kampf tobte vor undenklichen Zeiten, aus dem jedoch Odin und seine Brüder siegreich hervorgingen. Sie erschlugen den gewaltigen Ymir und aus seinen Wunden ergossen sich Ströme von Blut über die Feinde der Asen, in denen sie nahezu alle ertranken… alle, bis auf zwei.

Von diesem Riesen-Paar, welches in die Nebelwelt flüchtete und sich dort versteckte, stammen alle späteren Hrimthursen-Geschlechter ab. Doch auch Audhumla, die erste Kuh, wurde über die Kante in den grundlosen Abgrund des Ginnungagap hinuntergespült worden sein, denn nach diesem Blutbad hat nie wieder jemand von ihr gehört oder sie gar gesehen…

Die Asen schleppten hiernach den toten Ymir bis in die Mitte der Schlucht Ginnungagap. Dort legten sie ihn in die große Leere, ganz wie einen Deckel über den Abgrund.

Doch dem war nicht genug, denn hier erschufen sie nun die Welt aus dem Leichnam des Riesen.

Sein Blut wird zum Meer. Sein Fleisch zur Erde. Aus seinen Gebeine formen sie die Gebirge und Klippen. Die Zähne und zersplitterte Knochenreste werden zu Steinen und Geröll. Bäumen und Gras entstehen aus den Haaren. Das Gehirn des gefallenen Riesen werfen die Götter hoch in die Luft. Auf diese Weise entstehen die Wolken. Und der Himmel? Diesen formen Sie aus seiner Schädeldecke, die sie wie ein Gewölbe, eine Kuppel über alles Erschaffene stülpen.

Nun fangen die Götter heiße Funken aus Muspellheim ein und setzen sie auf die Innenseite dessen, was einst des Riesen Ymir Schädel war. Dort hängen und funkeln sie bis heute, denn so wurden die Sterne erschaffen.

Aus Ymirs Leichnam kriechen kleine Würmer. Sie sind der Ursprung der Zwerge, der Unterirdischen, die in Grotten und Höhlen leben. Die Asen wählen vier von ihnen, die das Himmelsgewölbe tragen, die vier Ecken der Welt bewachen sollen. Diese Zwerge heißen: Osten, Westen, Norden und Süden.

So bekommt alles Ziel und Sinn.